Alighiero Boetti

Über den Künstler

Alighiero Boetti – oder Alighiero e Boetti, wie er sich selbst ab 1971 nannte – wurde 1940 in Turin geboren. Im Januar 1967 debütierte er in der Bewegung der Arte Povera, 1972 zog er nach Rom. Bereits im Jahr zuvor hatte er Afghanistan entdeckt und mit jenen künstlerischen Arbeiten begonnen, die er afghanischen Stickerinnen anvertraute. Dazu gehören beispielsweise die Mappe und die farbigen Weltkugeln, die er im Laufe der Jahre als Zeugnis der politischen Veränderungen in der Welt neu gestalten sollte.

Als konzeptueller und vielseitiger Künstler vervielfältigte er die Arten von Werken, deren Ausführung er – in einigen Fällen – nach klaren Regeln an andere Personen übergab, wobei er dem Prinzip von Notwendigkeit und Zufall folgte: So zum Beispiel seine Biros, die mit Kugelschreiber gemachten Bilder (in blau, schwarz, rot und grün), bei denen der gepunktete Hintergrund die Sprache inszeniert; die Stickereien von Buchstaben, klein oder groß und bunt; oder die Tutto: dichte Puzzles, in denen sich unterschiedlichste Umrisse finden lassen, wie Silhouetten von Gegenständen und Tieren, Bilder aus Zeitschriften und bedrucktem Papier und vieles mehr, wirklich »alles«. Es gibt auch postalische Werke des Künstlers, die sich mit der mathematischen Zusammensetzung von Briefmarken, den zufälligen Abenteuern von Postreisen und der geheimnisvollen Schönheit der in Umschlägen enthaltenen Blätter beschäftigen. Die Zeit, ihr faszinierendes und unausweichliches Vergehen, ist vielleicht das verbindende Thema von Boettis typologischer und ikonografischer Vielfalt. Sein Werk und seine Persönlichkeit als Künstler haben die nachfolgenden Generationen und die heutigen Künstler*innen in Italien und der ganzen Welt stark beeinflusst. Boetti starb 1994 in Rom.

Immagine somiglianza

1975

Schwarzer Kugelschreiber auf Papier

Immagine somiglianza gehört zu einem Zyklus von Arbeiten, die mit Kugelschreiber auf Karton realisiert wurden. Für Boetti stellen die Kugelschreiberarbeiten ebenso wie die Wandteppiche eine westliche Antwort auf die afghanischen Stickereien dar. 1972 begann der Künstler den Kugelschreiberzyklus sozusagen im Negativ, d.h. mit einem weißen Feld auf einem gepunkteten Kugelschreiberhintergrund, der entweder schwarz, blau, rot oder grün war. Die Struktur, die all diesen Werken gemeinsam ist, besteht aus einem »geschriebenen« Muster, das durch weiße Kommata unterbrochen wird. Jedes dieser Kommata erhielt den Wert eines Buchstabens, wenn es nach den Prinzipien der kartesischen Ebene gelesen wurde, unabhängig davon, ob die Lektüre von links nach rechts erfolgte oder ob das Alphabet entlang des Randes angeordnet war.

Das Muster des Kugelschreiberhintergrunds ist das Ergebnis einer langen und akribischen Arbeit, die Boetti an verschiedene Menschen delegiert hat, um die Anonymität und Pluralität der Autor*innenschaft des Projekts zu unterstreichen. Dem Vorgang liegt auch einegewisse Ironie zugrunde, wie der Künstler selbst anmerkt: »Ich habe die Arbeit oft von anderen machen lassen, obwohl ich sie sehr gerne selbst machen würde. Ich würde gerne mit einem leeren Blatt Papier in die Natur gehen und sechs Monate brauchen, um es zu füllen. Das würde ich gerne tun, aber ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht, ich werde nach zwei Minuten verrückt. Aber da es mir gefällt, finde ich Leute, die es tun, ein bisschen wie in den muslimischen Ländern, wo man, wenn man nicht nach Mekka gehen kann, jemanden bezahlt, der für einen dorthin geht und die Gebete verrichtet, all seine Dinge sagt…«.

Die Zeichnung der verschiedenen Zeichen, des Alphabets, der Kommas und der Wörter wird zunächst immer vom Künstler selbst erstellt. Mit der restlichen Arbeit beauftragte Boetti dann Personen seines Vertrauens. Maria Angela De Gaetano, die ab 1973 die Realisierung des Kugelschreiberprojekts koordinierte, erinnert sich an Folgendes: »Ich wählte Leute aus allen Vierteln und aus allen Altersgruppen aus, und jeder von ihnen arbeitete auf eine andere Weise. Die einzige Regel, die es zu beachten galt, war, das Weiß nicht zwischen den Kreuzschraffuren hervortreten zu lassen. Im Übrigen konnte jeder so arbeiten, wie er es für richtig hielt. Manche hatten einen größeren Strich, manche waren steifer, andere gingen eher mechanisch vor, dachten, träumten, ein bisschen wie beim automatischen Schreiben. Boetti wollte oft nicht, dass ich ihm sagte, wer das Blatt gemacht hatte, er wollte raten. Er erkannte den Strich einer Frau und fragte mich dann nach allen anderen, wer sie waren und was sie im Leben taten. Die Arbeit dauerte oft sehr lange. Ich persönlich habe anderthalb Jahre gebraucht, um das erste Werk zu vollenden, ein Blatt mit einer Größe von einem Meter mal mehr als einem Meter.«

Die ersten Kugelschreiberarbeiten, die in Turin entstanden, waren ausschließlich blau, während für die in Rom entstehenden meist schwarz, rot und grün verwendetwurden. Die Schriftzüge wurden nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt: manchmal waren es Titel anderer Werke, z.B. Dare tempo al tempo, Raddoppiare dimezzando; ein anderes Mal waren es Zitate, z.B. La notte dà luce alla notte. Die Ausarbeitung dieser Phrasen in unterschiedlichen Varianten, mit variablen Farb-und Schraffurtechniken, zog sich über viele Jahre hin.

Als Inspiration für Immagine somiglianza dienten die ersten Reproduktionen, die Boetti von Titelseiten von Nachrichtenmagazinen anfertigte. Letztere entstand zwischen 1975 und 1976, als er die ersten Montagen mit Hilfe von Schablonen auf den Titelseiten von Zeitschriften anfertigte. Dieses Verfahren wurde schließlich zum Kernstück seiner in den achtziger Jahren so beliebten bunt illustrierten Kartonagen.